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Heureka indeed: Das Bild der Wissenschaft & Geschichte in Civilization VI

Civilization 6 ist offenbar aufgefallen, dass den Grundfesten der Menschheit ein wenig Chaos sehr gut steht.

Ein Gastbeitrag von Tobias Unterhuber.

Tobias ist Doktorand in der Germanistik an der LMU München und Redakteur und Autor bei PAIDIA. Einige Schwerpunkte seiner Texte über Computerspiele sind Gender-Themen, die kulturelle Bedeutung von Spielen, kulturwissenschaftliche Spieltheorie und im weitesten Sinne Ideologie in Spielen. Strategiespiele sind eigentlich nicht seine Spezialität — außer es geht um Civilization, das zu den ersten Spielen gehörte, die er jemals gespielt hat und das er bis heute immer noch spielt.

Civilization oder wie ich es liebevoll nenne (und damit bin ich sicher vollkommen alleine) Civ, begleitet mich schon ein ganzes Stück meines Lebens. Es ist eines der ersten Spiele, an das ich mich erinnere, dass ich sie selbst gespielt habe und nicht wie damals bei Street Fighter 2 nur sehnsüchtig meinen älteren Brüdern zugesehen habe, um dann im Kindergarten Fan Art für Chun Li und Sagat zu malen. Was mich immer schon an Civilization faszinierte, war, dass es mir anderen Siegmöglichkeiten bot als Krieg.

Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft. Ah, Wissenschaft! Eine Zivilisation zu begründen, die ihre Zeit statt mit Töten und Erobern zu verbringen sich der Forschung und Erforschung widmet! Eine Möglichkeit, die mir so oft – auch heutzutage – noch fehlt, zu gewinnen ohne Kampf, andere Konfliktlösungsstrategien als Gewalt. Doch irgendwas war auch bei Civilization immer etwas seltsam. Auch Wissenschaft war ein Wettkampf, eine Siegmöglichkeit eben, in der es nicht unbedingt nur darum ging, viel Zeit der Forschung zu geben und verlässlich und akkurat wissenschaftlich zu arbeiten, sondern vor allem schneller in der Erforschung zu sein als alle anderen Mitspielenden und sich schneller zum Ziel vorzuarbeiten, der Erkundung des Weltalls, die im Spiel den Endpunkt wissenschaftlicher Entwicklung markiert. Damit wird in Civilization Wissenschaft Dinge unterstellt, die eigentlich konträr zu ihrer Grundlage stehen: Wissenschaft sei abschließbar. Es gibt einen Endpunkt, an dem die Wissenschaft ihren Dienst getan hat. Sie hat ein Ziel.

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Zwar ist dies der Spielstruktur geschuldet, die auf dem Prinzip von Gewinnen und Verlieren basiert (zumindest in diesem Fall). Wissenschaft ist aber eben nicht auf Ende, noch weniger auf ein bereits vorher abzusehendes, ausgerichtet, sondern ist ein Prozess, der sich mit jedem Schritt wieder verändert, neu ausrichtet und gleichzeitig alles bereits als gewusst angesehenes hinterfragen sollte und damit eben nicht einfach nur von Forschung zu Forschung, von Projekt zu Projekt voranschreitet. Vorwärts immer, rückwärts nimmer. Forschung aber lebt gerade von der immer wiederkehrenden Rückwendung, von der nicht absoluten Kontrolle, vom Zufall und von der Aporie.

Es gibt zwar keine Aporien in Civilization, aber zumindest falsche Pfade, die man wählen kann, je nachdem, auf welches Ziel die Forschung hin ausgerichtet ist. Dies sieht man vor allem dann, wenn man in einem der älteren Teile einfach einmal drauf los forscht. Irgendwann fehlt einem dann doch die entscheidende Forschung oder Technologie, die es braucht, um die anstehenden Probleme zu lösen. An einen Wissenschaftssieg wäre bei einem solchen Vorgehen gar nicht erst zu denken. Dieser braucht Planung und Voraussicht (also ein Vorscrollen im Technologiebaum). Jede Entscheidung muss vorausgedacht werden, um ein sinnvolles Fortschreiten zu garantieren, weil nur das was Nutzen, meist sogar nur das, was direkten Nutzen hat, ein Schritt zum Sieg ist.

Eine solche Darstellung von Wissenschaft hat weitreichende Folgen, denn sie ist Ausdruck eines teleologischen Geschichtsverständnisses, dass die Entwicklung der Menschheit, seiner Kultur und Gesellschaft als eine Geschichte der Zielstrebigkeit und des Fortschritts sieht. Was früher war, kann nur auf einer niedrigeren Stufe der Kultur und Zivilisation stehen, mag vielleicht sogar als unterentwickelt, primitiv oder gar als barbarisch gelten. Frei nach Peter Licht (aber ohne Ironie): Nach vorn, nach vorn, die Zukunft leuchtet schon! Die Menschheit wird in diesem Verständnis immer besser, was auch immer das jeweils genau bedeutet. Entwicklung und Fortschritt sind hier gleichbedeutend und aus dem 19. Jahrhundert ruft ein Typ namens Hegel laut Geschichtsphilosophie und Weltgeist dazwischen.

Doch gibt es auch andere Verständnisse von Geschichte, die das glückliche oder unglückliche Ende der menschlichen Entwicklung relativieren. Der französische Philosoph Michel Foucault entwickelte mit seinem Konzept des Diskurses ein Geschichtsverständnis, das von den gebräuchlichen Ideen von Geschichte abweicht. Geschichte als Entwicklung oder gar als Fortschritt zu verstehen, sieht seiner Meinung nach Geschichte zu sehr als einen voranschreitenden und verbessernden Prozess an. Er argumentiert vielmehr, dass bestimmte Kulturen zu bestimmten Zeiten ihre jeweils eigene Ordnung des Denkens besaßen, die sich oft drastisch vom Denken davor und danach oder auch an anderen Orten unterschied. So gibt es immer wieder Brüche im Denken, oft ausgelöst durch nicht vorhersehbare Ereignisse.

Das Erdbeben von Lissabon, die Französische Revolution, die amerikanische Unabhängigkeit und schließlich der Wiener Kongress wären zum Beispiel alles Ereignisse, die zum Beginn der Moderne (nach Foucault) und damit zu einem anderen Denken am Anfang des 19. Jahrhunderts führten. Solche Brüche passieren immer wieder, sind aber nicht vorhersehbar genauso wenig wie ihre Auswirkungen, weil sie ja das Denken verändern und wir uns nicht ohne weiteres in ein anderes und vor allem noch nicht bekanntes Denken eindenken können. In den Worten des Literatur- und Kulturwissenschaftlers Joseph Vogels: Über Veränderungen der Ordnung des Denkens kann man nur im Futur II sprechen.

Doch was hat das mit Civilization zu tun? Und was im Genauerem mit Civilization VI? Eine der großen Neuerungern bei Civilization VI führt sowohl im Bereich der Sozialpolitiken als auch im Bereich der Wissenschaft sogenannte „Heureka-Momente“ ein, das heißt: Wenn ich zum Beispiel einen neuen Kontinent entdecke oder mit meinen Bogenschützen genug gegnerische Einheiten besiege, eine ausreichend große Stadt, mein ganzes Gebiet mit Farmen oder Mienen vollgepflastert habe oder aber von meinen Kontrahenten unversehens den Krieg erklärt bekomme, vergünstigt und begünstigt dies bestimmte Entwicklungen. Genauer: die Entwicklungszeiten von Forschungen oder Sozialpolitiken werden halbiert. Was für viele vielleicht wie ein Miniquest, Achievement- oder Belohnungssystem wirkt, hat meiner Meinung nach weitreichende Folgen, die ich auch in meiner eigenen Spielerfahrung beobachten konnte.

Statt schön brav und zielstrebig auf den Wissenschaftssieg hin zu steuern, war ich auf einmal versucht, alle möglichen Heureka-Moments abzugreifen und hangelte mich damit wild und chaotisch durch den Technologiebaum. Nichts war da mehr mit Planung, sondern stattdessen regierte auf einmal mehr der Zufall oder die Kontingenz, wenn wir mal fancy sein/klingen wollen. Dahin war also das Voranschreiten meiner Zivilisation hin zu ihrem vorherbestimmten, wahrscheinlich paradiesischen Ziel und Endpunkt. Auch ging die klar geplante Vorstellung, wie meine Zivilisation sein sollte, den Bach runter. Statt nur pazifistisch zu agieren, bot es sich bei einem Spieldurchgang auf einmal an, doch mehr das Kriegsbeil zu schwingen. Und ein anderes Mal kam ich vom geplanten Kultursieg ab und widmete mich stattdessen nur der Forschung. Unzählige ähnliche Veränderungen einer vorher geplanten Strategie könnte ich hier noch aufführen, aber ich glaube, es ist klar, auf was ich hinaus will.

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Doch die Heureka-Moments zeigen nicht nur im Gameplay und im Verhalten der Spielenden eine Veränderung zu früheren Teilen. Sie sind ein Zeichen dafür, dass Civilization VI sowohl ein etwas anderes Verständnis von Wissenschaft als auch von Geschichte zugrunde liegt. Nicht nur das Spiel gewinnt damit an Komplexität, sondern auch eben diese Vorstellungen und der Geruch des Fatalismus ist auch bei weitem weniger bemerkbar. Statt eines voranschreitenden Pfeiles ist die Entwicklung mehr ein kreuz und quer mäandernder Fluss geworden, der zwar immer noch Richtung Sieg zu drängen versucht, dabei aber eben immer wieder abbiegt, vielleicht sogar umkehrt, der Bruchmomente und Momente tiefgreifender Richtungsveränderung kennt und der vor allem sein Ziel nicht mehr von Beginn an eingeschrieben hat. Die große Erzählung des (unaufhaltbaren) Fortschritts wird zugunsten einer Vorstellung einer komplexen, unübersichtlichen, unüberschaubaren und wechselseitig von allen Seiten beeinflussten Welt abgelegt, in der nicht jede Konsequenz einer Entscheidung im Vorhinein schon absehbar ist.

Damit macht es etwas ähnliches, das wir auch in Spielen wie The Walking Dead, Life Is Strange und Konsorten (also Spielen, die Teil einer Entwicklung sind, die von mir an anderer Stelle als decision turn bezeichnet wurde) auf Mikro-Ebene sehen, uns hier aber auf der Makro-Ebene gezeigt wird. Civilization VI macht damit einen Schritt nach vorne, indem es uns die Schritte nach vorne nicht mehr so schmackhaft macht und uns stattdessen immer wieder verleitet, vorgeplante Pfade zu verlassen und uns etwas im Moment und im Augenblick des Geschehens treiben zu lassen, etwas, das ich von einem Spiel, das auf der ganz großen Skala (es geht um Zivilisation, die Welt, ja eigentlich um alles!) nicht erwartet hätte.

Dom Schott hat Archäologie studiert und schreibt heute als freier Journalist besonders gerne über spannende Online-Communities, Netzkultur und seine zwei Kater.

2 Kommentare zu “Heureka indeed: Das Bild der Wissenschaft & Geschichte in Civilization VI

  1. Sehr schöner Text! Ich finde es allerdings in Sachen Ende des Technologiebaums erwähnenswert, dass durch die wiederholt erforschbare Future Tech die Möglichkeit des Umdenkens und der Neuerkenntnisse spielerisch zumindest in Ansatz einbaut. Wie du schreibst ist es schwer, sich in ein Denken einzudenken, das noch nicht da ist, aber immerhin lässt Civ damit anderes Denken, das nach unserem kommt, auch zu.

    Ist es unfein, auf die Rechtschreibfehler hinzuweisen…? Die stören die Lesefluss nämlich ein wenig (dass ich >sie< selbst gespielt habe; dasmit). 🙂

    • Danke für deinen Kommentar! Ich mache direkt mal den Autoren darauf aufmerksam, dass sich hier was tut 🙂 – und natürlich auch Danke für den Hinweis auf den Rechtschreibfehler!

Kommentare sind geschlossen.

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