Über die Vor- und Nachteile, Risiken und Chancen des Unvorhersehbaren.
The Curious Expedition ist Preisträger des Deutschen Entwicklerpreises 2015 und wurde in den letzten zwei Jahren mehrfach für eine Vielzahl nationaler und internationaler Awards nominiert. Das Spiel erinnert ein wenig an die Erzählwelt von Jules Vernes’ “In 80 Tagen um die Welt” und macht uns zum Anführer einer Expedition jener Zeit, mit der wir die entlegensten Orte des Globus erkunden.
Auf unserem Weg lauern eine Vielzahl von zufallsgenerierten Gefahren und wenn wir nicht die Bedürfnisse, Ressourcen und individuellen Wünsche unserer Truppe im Auge behalten, so kehren wir unter Umständen mit leeren Händen und einem geschädigten Ruf in die Heimat zurück – oder Schlimmeres.
Das Spiel wird seit seinen frühesten Early-Access-Tagen von den Entwicklern regelmäßig mit Updates versorgt, doch die Idee hinter einer ihrer jüngsten Erweiterungen baut eine ganz besonders spannende Neuerung in das Spiel ein: Zufallsgenerierte Ethnien, mit denen unsere Abenteurer interagieren können. Johannes Kristmann, einer der beiden verantwortlichen Entwickler von The Curious Expedition, beschreibt dieses spannende Konzept:
In Bezug auf das Aussehen der einheimischen NPCs hatten wir anfangs etwa vier visuelle Variationen, die auf existierenden Stämmen wie den Massai oder Huli (basierten). Da unsere Expeditionen aber an den unterschiedlichsten Orten der Welt stattfinden, kam die Frage auf, warum die Einheimischen überall auf der Welt mehr oder weniger gleich aussehen.
Da uns die respektvolle Darstellung von einheimischen Völkern in unserem Spiel sehr wichtig war, haben wir uns entschlossen, ihr Aussehen prozedural zu generieren, um der unendlichen Vielfalt der echten Welt so nahe wie möglich zu kommen.
Daraus entstand ein relativ großes System, das Menschen mit unterschiedlichsten Hauttönen, Gesichtszügen, Schmuck, Haaren und Kleidungsstilen generiert, bei dem garantiert kein Spieler jemals genau dem gleichen Stamm oder Menschen begegnen (wird). Auf diese nahezu unendliche Vielfalt sind wir sehr stolz.
Und die Ergebnisse dieses Verfahrens können sich durchaus sehen lassen: Die Vertreter der indigenen Kulturen in The Curious Expedition tragen unterschiedlichste Kleidermoden, Körperschmuck und Frisuren, die die Diversität der verschiedenen Ethnien unterstreichen.
Angst vor ethischen Grauzonen, die durch den Code überschritten werden konnten, hatten die Entwickler dabei allerdings nicht:
Beim Auswürfeln der negativen Eigenschaften haben wir zwar die Profession der Figur als Grundlage einer Gewichtung der Wahrscheinlichkeiten benutzt, aber eine Art Selbstzensur der Ergebnisse gibt es nicht.
Ein indigener NPC kann genauso ein Kleptomane oder Alkoholiker sein wie eine Nonne Rassist oder Sexist sein kann. Rassisten unter Einheimischen gibt es nicht, was aber mehr daran liegt, dass wir uns auf den dominanten Rassismus der Kolonialmächte konzentrieren wollten.
Während ich das Interview mit Entwickler Mensch-Maschine zu diesem Text verarbeitete, musste ich unweigerlich immer wieder an das Spiel Mittelerde: Mordors Schatten denken, das ebenfalls von einem vergleichbaren Zufallsgenerator Gebrauch macht. Zwar ist die Prämisse und das grundlegende Konzept des Action-Rollenspiels von Monolith Productions ein völlig anderes, doch begegnen wir auch hier als Hauptfigur Talion fremden Ethnien, deren Aussehen und Charakter-Eigenschaften dem Zufall überlassen sind: Orks, und ihre kräftigeren Verwandten, die Uruk-hais.

Durch diesen spürbaren Zufallsfaktor wird hier jede Begegnung, jede Konfrontation und jeder Kampf zu einem einzigartigen Erlebnis, das wir so noch nicht erlebt haben. Das Entwicklerteam war sich dabei dem Reiz dieses Effekts sehr wohl bewusst und machte das Feature zum wichtigsten Verkaufsargument ihres Spiels, indem sie es sogar noch um einen weiteren Aspekt erweiterten: Sterben wir im Duell mit einem solchen zufallsgenerierten Gegner, wird dieser sich bei unserem zweiten Treffen an seinen Triumph erinnern und womöglich Taktiken gegen unseren Kampfstil entwickelt haben.
Dieses sogenannte Nemesis-System, das mit der Idee von The Curious Expedition durchaus verwandt ist, wurde von den Fans in höchsten Tönen gelobt – und darf deswegen nun auch in der Fortsetzung eine noch zentralere Rolle spielen. Ein Indiz dafür, dass ein konsequent umgesetztes Zufallsprinzip auch für einen großen Markt funktionieren kann? Johannes Kristmann zumindest findet großen Gefallen am Spiel mit dem Zufall:
Überwiegend liegt der Vorteil, einheimische NPC-Fraktionen generativ zu erzeugen, in dem Zauber des Unerwarteten und “Noch nie Entdecktem”, jedes Mal wenn wir einem neuen einheimischen Stamm begegnen. Als Entwickler ist es schwer, das eigene Spiel nach Jahren der Entwicklung noch als “Spieler” zu sehen.
Durch generative Inhalte ist das aber sehr gut möglich – und obwohl man die zugrunde liegenden Regeln der Generierung kennt, schafft es ein gutes System, uns immer wieder zu überraschen. Das hält unsere Motivation als Entwickler frisch und macht unglaublich viel Spaß.
Doch das Zufallsprinzip stellt Entwickler auch vor Herausforderungen und mögliche Fallstricke. Ausgerechnet das Team von Hello Games, das mit No Man’s Sky für die zufallsgenerierte Erschaffung ganzer Galaxien verantwortlich ist, kann beispielsweise von The Curious Expedition eine wichtige Lektion lernen.
Während jeder Planet in jeder Galaxie von No Man’s Sky zufallsgeneriert ist und in seinen Eigenschaften von nur sehr wenigen fixen Faktoren wie der Nähe zur nächsten Sonne beeinflusst wurde, überließen Hello Games dem Code weit weniger Freiheiten, als sie die drei Alien-Rassen des Spiels erschufen.
Die Gek, Korvax und Vy’keen sprechen je eine eigene Sprache und teilen sich untereinander morphologische Gemeinsamkeiten: So sind die handelsliebenden Gek eher gedrungen und haben riesige Augen, während die schmächtigen Korvax Display-Masken tragen und die Vy’keen schließlich als kriegsliebende Kultur breit gebaut und bullig erscheinen.
Diese extremen morphologischen Unterschiede sind eine visuelle Verlängerung der drei soziologischen Extreme, die jede dieser Alienrasse vertritt: Krieger, Händler und Wissenschaftler. Durch die unübersehbaren Unterschiede erleichtert uns Hello Games zu erkennen, welches Alien gerade vor uns steht und mit welchen Handelsoptionen wir rechnen können. Der allem zugrunde liegende Zufallscode tauscht daher auch immer nur einzelne Kleidungsstücke aus oder variiert ein bis zwei Körperteile.
Der Nachteil dieser zweckmäßigen, aber auch notwendigen Einschränkungen des Zufallsprinzips offenbart sich während unserer zunehmend längeren Reise durch die Welt von No Man’s Sky: Der Code, den Hello Games für die Erschaffung ihrer Welt benutzt, nimmt keine Rücksicht auf den Ort, an dem wir die Alien-Rassen antreffen, sondern variiert die optischen Parameter auf Basis der Dichte einer Alienpopulation. Das bedeutet: Treffen wir viele Vertreter der gleichen Rasse in unmittelbarer Nähe, so bemüht sich der Code darum, unter diesen Aliens möglichst viele optische Unterschiede zu schaffen. In der Praxis hat das zur Folge, dass beispielsweise drei Gek-Aliens, denen wir in der gleichen Forschungsstation begegnen, sich optisch nach der Logik des um Vielfalt bemühten Zufallsgenerator kaum ähneln dürfen.
Damit ist es für No Man’s Sky unmöglich, beispielsweise lokale Gek-Populationen, die längere Zeit an einem festen Ort leben, optisch von den Nomaden-Geks zu unterscheiden. Wir werden nie auf einem Planeten landen und so etwas wie eine einheimische, zusammenhängende Gek-Bevölkerung kennenlernen können, da das nicht der Logik des Zufallsprinzips von Hello Games entspricht. Die Konsequenz daraus ist ein dicker Malus für die Glaubwürdigkeit dieser riesigen Spielwelt, die es nicht vermag, den drei einzigen Alienrassen eine spielimmanente Tiefe in Form einer Lokaltradition zu geben, die über das Niveau herumstehender Quest-NPCs mit Ausrufezeichen über ihren Köpfen hinausgeht.
Das Spiel mit dem Zufall bleibt also ein Wagnis, das bei der Konzeption einer virtuellen Welt gut überlegt werden muss. Geht diese Rechnung mit den vielen Fragezeichen allerdings auf, so kann der Zauber des Unerwarteten seine volle Wirkung entfalten und uns unvergessliche Begegnungen schenken, die in ihrer Form einzigartig bleiben.
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