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Die Reise zum Leid der Anderen – Videospiele im Licht des Dark Tourism

Dark Tourism hat seit Jahrzehnten ein selbstverschuldetes Imageproblem. Videospiele wie The Town of Light demonstrieren hingegen eindrucksvoll, wie die menschliche Neugier am Morbiden zur Grundlage eines wichtigen Lern- und Erfahrungsprozesses gemacht werden kann.

„Wer wären wir, wenn wir kein Mitgefühl für jene aufbringen könnten, die nicht wir selbst sind und die nicht zu uns gehören? Wer wären wir, wenn wir uns selbst nicht – wenigstens für einen Moment – vergessen könnten? Wenn wir nicht etwas anderes werden könnten, als wir sind.“

Mit diesen Worten wandte sich Susan Sontag 2003 in ihrer Dankesrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels an ihr Publikum, das stumm und wissend nickte. Die Grenzen des eigenen Erfahrungshorizontes hinter sich zu lassen und sich für die Erfahrungen und Geschichten anderer Menschen zu öffnen ist ein Pfeiler der menschlichen Empathie, die allerdings einen seltsamen, mehrgesichtigen Ausläufer hervorgebracht hat: Dark Tourism.

Das, was früher Katastrophentourismus genannt wurde, beschreibt die „Besichtigung von Orten, Attraktionen und Ausstellungen, die mit Tod, Mord, Gräueltaten, Gewalt, Leid, Schmerz und dem Makabren assoziiert werden“. Diese Definition stammt von dem 2012 gegründeten Institute for Dark Tourism in Lancashire, während eine einschlägige Dark Tourism-Website mittlerweile über 800 Reiseziele in 108 Ländern vorstellt und zur Buchung anbietet – alles unter der Standarte eines betont strikten, ethischen Kodex:

“Dark Tourism, as understood on this site, does not include anything voyeuristic (like ‘slum tourism’), nor does it include ‘war tourism’ (travel to current war zones) or other ‘danger tourism’, nor ‘ghost hunts’ or anything ‘paranormal’, nor battle re-enactments.

(…) It furthermore distances itself from disrespectful tourist behaviour such as selfie-taking at sites of tragedy. What is endorsed here is respectful and enlightened touristic engagement with contemporary history and its dark sites/sides in a sober, educational and non-sensationalist manner.”

Inwiefern dieser Kodex mit beispielsweise dem ebenfalls auf der Seite angewandten “Darkometer” zusammenpasst, das die verschiedenen Reiseziele aufgrund ihrer “Darkness” bewertet, sei für den Moment dahingestellt, doch eines ist klar ersichtlich: Das Geschäft mit dem düsteren Tourismus floriert.

Die Balance zwischen Empathie und Respektlosigkeit

Gleichzeitig hat der Dark Tourism im aktuellen Gesprächsklima keinen guten Stand. Wir denken an Touristen, die in Auschwitz Selfies vor Gaskammern machen, auf dem Denkmal der Juden in Berlin herumspringen oder durch das Tunnelmuseum von Sarajevo kriechen, um sich in die Gefühlslage der zahllosen Kriegsopfer zu versetzen, die hier 1993 mit bloßen Händen um ihr Leben gruben, um aus der belagerten Stadt zu fliehen. In Prag schließlich können Besucher des Foltermuseums dank einer aufwändigen audiovisuellen Inszenierung das Spektakel einer Hexenverbrennung nacherleben.

Kritisiert wird in Fällen wie diesen die Respektlosigkeit der Besuchenden und das kommerzialisierte Melken der Tragödien. Dabei ist der Dark Tourism schon deutlich länger ein Teil der Tourismus-Tradition, als man vielleicht annehmen könnte.

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Inserat, abgedruckt bei Karl Kraus, Reklamefahrten zur Hölle, in: Die Fackel Nr. 577-582 (November 1921), 23. Jg., S. 96ff.

In der berühmten Fackel-Polemik von Karl Kraus echauffiert sich der Satiriker und Kritiker über ein ganz spezielles Inserat der Basler Nachrichten aus dem Jahr 1921. Beworben werden “Schlachtfelder-Rundfahrten im Auto”, die die blutigsten Schauplätze des Ersten Weltkriegs ganz bequem im Vorbeifahren erlebbar machen sollen – Kaffeekränzchen und großes Frühstück inklusive:

“Unvergessliche Eindrücke (…) Als Herbstfahrt besonders zu empfehlen (…). Eine Fahrt durch das Schlachtfeldergebiet von Verdun vermittelt dem Besucher den Inbegriff der Grauenhaftigkeit moderner Kriegsführung. (…) Jedem Teilnehmer ist ein bequemer Platz garantiert.”

Kraus kommentiert das Inserat mit scharfen Worten: “Was bedeutet der schauerlichste Schauplatz des blutigen Deliriums, durch das sich die Völker für nichts und wieder nichts jagen ließen, gegen die Sehenswürdigkeit dieser Annonce. (…) Sie erhalten am Morgen ihre Zeitung. (…) Sie erfahren, dass 1,5 Millionen eben dort verbluten mussten, wo Wein und Kaffee und alles andere inbegriffen ist. Sie haben vor jenen Märtyrern und jenen Toten entschieden den Vorzug einer erstklassigen Verpflegung in der Ville-Martyre und am Ravin de la Mort. Sie fahren im bequemen Personen-Auto aufs Schlachtfeld, während jene nur im Viehwagen dahingelangt sind.”

Der unangemessene Rahmen eines schaulustigen Besuchers, der Überreste eines Spektakels begutachtet und die respektlose Distanz zwischen Besuchenden und Opfern ist die Hauptkritik, die sich der Dark Tourism seit Jahrzehnten stellen muss: Voyeurismus und Selbstversicherung statt dem Wunsch, mehr über vergangene Schicksale der Geschichte zu erfahren, ein Andenken zu bewahren und für die Zukunft zu lernen.

Reiseziel: The Town of Light

Der offizielle Beschreibungstext des Videospiels Town of Light, das uns die traumatischen Erinnerungen einer ehemaligen Nervenklinik-Bewohnerin nacherleben lässt, liest sich eigentlich ganz ähnlich wie die Texte, die wie auf den einschlägigen Reise-Websites der Dark Tourism-Anhänger finden können – nur eben ohne Darkometer:

“12 March 1938. Renée, 16 years old, is ripped out of her world, locked up and deprived of everything. Her only fault was that she didn’t know what her place in the world was (…) The only horror you will find in this game is the truth: a blow to the solar plexus, much more intense than any supernatural presence.

(…) The story is set in Italy in the first half of the 20th Century in a place which really existed and has been meticulously reconstructed. Exploring and interacting with the environment you will relive the history of the manic character through her confused viewpoint (…).”

Das Versprechen, auf den Spuren eines wahren, echten Ereignisses in der Geschichte zu wandeln und die Aussicht darauf, mit verstörenden Erfahrungen und Kräften konfrontiert zu werden, die wir aus unserem Alltag nicht kennen, sind die Schlüsselwörter des Werbetextes, mit dem das Entwicklerteam LKA ihr Spiel hervorheben will. Ganz ähnlich wie die Teilnehmer der Schlachtfeld-Autofahrten müssen wir dafür aber keine körperliche Anstrengungen auf uns nehmen, sondern können alles ganz bequem auf der Couch erleben.

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Doch es gibt einen Unterschied zum traditionellen Dark Tourism, die ganz entscheidend dafür sind, dass der ehrbare Hintergedanke dieser Tourismusform wieder in den Vordergrund gezogen wird: The Town of Light macht uns zum Teilnehmer der ursprünglichen Ereignisse und nicht etwa zum außenstehenden, unbeteiligten Besucher.

Dieser radikale Perspektivenwechsel lässt uns im Spiel nicht nur eine verlassene “Heilanstalt” des frühen 20. Jahrhunderts durchwandern, sondern zwingt uns hin und wieder auch, die traumatischen Erinnerungen der Patientin selbst noch einmal zu durchleben. So werden wir unmittelbarer Zeuge sexueller Gewalt, spüren die uns überkommende Verzweiflung, wenn wir uns einem Psychiater anvertrauen, der uns nicht einmal zuhört und schlucken schwer, wenn wir im Rollstuhl an Behandlungsräumen vorbeifahren, in denen gefährlich aussehende Operationsinstrumente lagern.

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Dank der geschickten Inszenierung, die mit verschiedensten Farbpaletten und Grafikdesigns sowohl die Gedankenwelt der Protagonistin auch die Realität der Heilanstalt illustriert, lernen wir viel über die Menschen und die Situation, in der noch vor 80 Jahren Patienten mit psychischer Erkrankung gedrängt wurden. Ein klassischer Reiseausflug könnte diese virtuelle Erfahrung wohl kaum ersetzen.

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The Town of Light gelingt es damit nicht nur, im weitesten Sinn zu unterhalten (= uns auf vielen verschiedenen Ebenen anzusprechen), sondern auch uns über die wahre Geschichte der frühmodernen Asylums aufzuklären, die in zahllosen anderen Spielen lediglich als Schauplatz von Schießereien und Horror-Parcours dienen. Für einige Stunden erlaubt uns The Town of Light eine Reise zum Leid der Anderen anzutreten und vielleicht betroffen, vielleicht gerührt, vielleicht auch niedergeschlagen mit einem frischen Blick auf einen vertrauten Schauplatz zurückzukehren.

Hinweis: Während ich an diesem Text geschrieben habe, wurde mir zunehmend klar, wie ergiebig und umfangreich die Betrachtung von Videospielen im Kontext des Dark Tourism ist. Statt aber aus diesem Artikel einen mehrseitigen Literaturgiganten zu erschaffen, kehre ich lieber zu einem späteren Zeitpunkt und mit einer Art Fortsetzung an diese Stelle zurück und hoffe, dass diese erste Einleitung in das Thema eure Neugier wecken kann.

Dom Schott hat Archäologie studiert und schreibt heute als freier Journalist besonders gerne über spannende Online-Communities, Netzkultur und seine zwei Kater.

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