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Ein Archäologe will die Welt von No Man’s Sky vor dem Vergessen bewahren

Der amerikanische Archäologe Andrew Reinhard hat monatelang das Weltall von No Man's Sky durchstreift und über 35 Planetensiedlungen analysiert. Nun will er die Daten für alle zur Verfügung stellen.

Der Planet, den der Spieler Syn1334 in einer der unzähligen Galaxien von No Man’s Sky eines Tages entdeckte, entwickelte sich innerhalb weniger Wochen zu einem beliebten Zwischenstopp hunderter Reisender. Täglich landeten Raumschiffe auf den weitläufigen Gebirgstälern, wurden betankt, repariert und setzten dann ihren Weg durch das Universum fort. Viele Piloten hinterließen Botschaften: Sie grüßten andere Reisende oder bedankten sich bei Syn1334 für die Ressourcen, die dieser Unbekannte in seiner Basis bereitwillig allen Gästen zur Verfügung stellte. Doch etwa vier Monate nachdem Syn1334 zum ersten Mal seinen Fuß auf diesen Planeten gesetzt hatte, riss der tägliche Besucherstrom plötzlich ab. 

Ursprünglich war No Man’s Sky ein Solo-Abenteuer, doch Updates haben das Weltraumspiel nach und nach um Möglichkeiten erweitert, gemeinsam mit anderen SpielerInnen den Weltraum zu erkunden – und zu besiedeln.

Am 09. August 2017 hinterließ ein Weltraumpilot eine letzte Nachricht. Zwei Tage später veröffentlichte das Entwicklerteam von No Man’s Sky ein umfassendes Update, das weite Teile der Spielwelt umgestalten sollte. Auch den Planeten von Syn1334 erfasste dieses Update, das den einladenden Planeten in eine lebensfeindliche Welt verwandelte: Die fruchtbaren Täler wurden zu heißen Wüsten, giftige Gase füllten die Luft, neue Gebirge formierten sich und machten ehemalige Landeplätze unbrauchbar. Monatelang sollte kein Mensch mehr diesen einst so beliebten Zwischenstopp besuchen.

Ein Jahr nach dieser Katastrophe aber kehrten wieder die ersten Astronauten auf den Planeten von Syn1334 zurück. Sie waren allerdings nicht Reisende, die wie früher nur einen Zwischenstopp einlegten, sondern Touristen: Sie besuchten gezielt diesen Planeten von Syn1334, der einst als riesiger planetarer Rasthof beliebt war – und betrieben Sightseeing: Sie entdeckten die Grußbotschaften der PilotInnen, die vor der verheerenden Naturkatastrophe auf dem Planeten gelandet waren, hinterließen eigene Nachrichten und erzählten einander, wie es hier früher einmal war.

Planetare Basen, die von SpielerInnen gebaut wurden, sind die Hot Spots des Universums von No Man’s Sky: Begegnungsorte in einer endlosen Welt.

Das Universum von No Man’s Sky ist voll von derlei Geschichten, die von der Community selbst geschrieben wurden. Meist aber kennen nur ein paar Dutzend Eingeweihte und direkte Beteiligte diese Erzählungen: Es sind Lagerfeuergeschichten, die die Grenzen ihrer kleinen Gemeinschaften nur selten überschreiten  — und genau das will der Weltraumforscher Andrew Reinhard ändern: Seite an Seite mit anderen ForscherInnen hat er die Welt von No Man’s Sky monatelang nach diesen Geschichten durchkämmt und will jetzt seine Funde für die restliche Welt zugänglich machen.

Eine Datenbank soll die Geschichte des No Man’s Sky-Universums aufbewahren

Gemeinsam mit HistorikerInnen, AltertumswissenschaftlerInnen und BiologInnen interviewte der Archäologie Reinhard vergangenes Jahr die SpielerInnen von No Man’s Sky, dokumentierte spektakuläre Planetensiedlungen und analysierte das Verhalten von KolonistInnen und RaumpilotInnen. Einige seiner Ergebnisse können Interessierte auf seinem Blog nachlesen, doch ein Großteil der Daten und Analysen schlummern bisher noch in den Untiefen einer alten Festplatte – und genau das soll sich jetzt ändern.

In Zusammenarbeit mit der Princeton University will Reinhard eine Datenbank aufbauen, die seine Forschungsergebnisse der Öffentlichkeit zugänglich macht. Dafür sammelt er mit einer Crowdfunding-Kampagne Gelder, um die Infrastruktur und Wartung der Datenbank zu finanzieren, die „so lange online und einsehbar sein wird, wie es das Internet gibt.“ Im Interview mit ArchaeoGames erklärt der Forscher, was genau in den gesammelten Datensätzen steckt und warum deren Aufbewahrung so wichtig ist: „Ich habe 35 der ersten von Menschen errichteten, virtuellen Basen dokumentiert, was in dieser Form noch niemals jemand gemacht hat. Diese Daten werden der No Man’s Sky-Community eine große Hilfe dabei sein, sich an ihre eigene Geschichte zu erinnern, in die sie Zeit, Geld und Ressourcen investiert haben – und die nach mehreren Updates unwiederbringlich verloren gegangen ist.“

Doch die Arbeit an der Datenbank soll auch über die Grenzen der NMS-Community hinaus Nutzen mit sich bringen, wie Andrew weiter erklärt: So erlauben seine Dokumentationen Rückschlüsse auf das Verhalten von SpielerInnen in einer virtuellen Welt, wie sie sich organisieren, wie sie miteinander kommunizieren und welche sozialen Strukturen entstehen. Diese Erkenntnisse könnten nicht zuletzt SpieleentwicklerInnen nutzen, um ihre Online-Welten noch besser an die Bedürfnisse ihrer Communities anzupassen und die Dynamiken zu fördern, die Reinhards Daten offenlegen. Aber auch seine forschenden Kollegen sollen einen großen Nutzen aus der Arbeit des Weltraumarchäologen schlagen können – denn die Arbeit klassischer Archäologen wird sich im 21. Jahrhundert immer stärker auch im virtuellen Raum abpsielen, wie er ausführt: „Diese Datenbank könnte als Vorbild für die Dokumentation und Aufbewahrung archäologischer Fundergebnisse dienen, die sich um digitale Gemeinschaften drehen. Hier steht eine Menge auf dem Spiel.“

Vergänglichkeit ist eine der größten Bedrohungen von Online-Communities

Seit Jahrzehnten formieren sich in Online-Spielen immer wieder Clans, Communities, Gangs und Siedlungsgemeinschaften, die je nach Möglichkeit des jeweiligen Spiels tiefe Spuren in ihren virtuellen Welten hinterlassen. In dem Survival-Titel Rust beispielsweise herrscht seit Monaten ein Krieg zwischen SpielerInnen, die sich als Nazis verkleiden und Mini-KZs erreichten, und der „liberalen Befreiungsfront“, die die Siedlungen dieser „Online-Nazis“ gezielt zerstören. Spuren hinterlassen diese Kriege im Gegensatz zu realen Konflikten keine, wer nicht dabei war, wird in der Regel auch nichts von derlei Konflikten mitbekommen. Dabei liegt in der Erforschung und Dokumentation dieser Konflikte und Dynamiken viel Potential: Für ForscherInnen, aber auch einfach nur für spannende Texte und Videos, die diese Lagerfeuergeschichten einem größeren Publikum zugänglich machen.

Die Datenbank von Andrew Reinhard soll diese Aufgabe zumindest für einen Ausschnitt des riesigen Universums von No Man’s Sky übernehmen und SpielerInnen, die nie auch nur eine Minute mit dem Weltraumspiel verbracht haben, Hardcore-Fans und ForscherInnen gleichermaßen ansprechen. Eine „Einstiegshürde“ zum Verständnis der gesammelten Daten will der Archäologe vermeiden, wie er im Interview mit ArchaeoGames erklärt: „Weil sich dieses Projekt in erster Linie darum geht, der Community von No Man’s Sky ihre eigenen Geschichten zugänglich zu machen und zu erhalten, ist die Einstiegshürde zum Verständnis der Daten extrem gering.  Es ist ihre Kultur und damit letztendlich auch ihre Daten.“ Jeder Datensatz der 35 dokumentierten Siedlungsplätze besteht aus mehreren Karten, Bildern, Videos, beschreibenden und interpretierenden Texten, die um Interview mit ehemaligen BewohnerInnen oder BesucherInnen ergänzt werden – und alles soll selbsterklärend sein. Ein einzigartiges Vorhaben in der Welt der Videospiele.

Aber was passiert, wenn die Crowdfunding-Kampagne nicht erfolgreich ist? Auch darauf weiß Reinhard bereits eine Antwort: „Das Geld, das bis zum Ablauf der Kampagne zusammengekommen ist, werde ich als Grundlage nutzen und mich auf die Suche nach weiteren Finanzierungsmöglichkeiten machen. Das Ziel bleibt das gleiche: Alle gesammelten Daten sollen früher oder später veröffentlicht werden, gebündelt an einem Ort und für alle Interessierten einsehbar.“ Zweifellos ein ehrgeiziges Unterfangen – das allerdings ein ganzes virtuelles Universum vor dem Vergessen bewahren könnte.

Dom Schott hat Archäologie studiert und schreibt heute als freier Journalist besonders gerne über spannende Online-Communities, Netzkultur und seine zwei Kater.

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