Im Blickpunkt

Sterben im Kapitalismus: Ein Spaziergang auf der Gräberstraße von The Outer Worlds

Einerseits kommt mir die Welt von The Outer Worlds seltsam vertraut vor: Riesenkonzerne haben jeden Bereich des Alltags unter sich aufgeteilt, die Unterschicht schuftet in Fabriken, die Oberschicht wälzt sich auf Casino-Sofas. Unsinnige Werbeslogans loben nicht minder unsinnige Produkte — Zahnpasta, die blind macht oder tödliches Aphrodisiakum — und generell geht alles mehr oder weniger spektakulär den Bach runter. 

Auf der anderen Seite spürte ich während meiner bisher rund 15 Spielstunden unentwegt ein seltsames Gefühl der Irritation, als wäre irgendwas ganz gründlich verkehrt. Lange fiel es mir schwer, den Finger auf den Ursprung dieses Gefühls zu legen, bis mir schließlich auf Scylla, einem Planeten des Spiels, alles klar wurde: Die Welt von The Outer Worlds hat keine Vergangenheit. Geschichte existiert hier nur in Hinweisboxen, Datenbankeinträgen oder auf Info-Schildern. Mit einer einzigen Ausnahme.

Wo sind denn alle?

Laut offizieller Lore wird das Sonnensystem von The Outer Worlds, das irgendwann in weiter Zukunft spielt, seit etwa 120 Jahren von Menschen bereist. Im Kosmos der Dinge nur ein Wimpernschlag, und doch eine Zeitspanne, die mehrere Generationen umfasst. Und es ist eine bewegte Geschichte: In rund 120 Jahren besiedelte die Menschheit in diesem Sonnensystem mehrere Planeten, gründete Kolonien, Siedlungen, Großstädte — und gab Planeten wieder auf, die zu unwirtlich, zu lebensfeindlich sind. 

Seit der Ankunft der Menschen an diesem Fleckchen im Universum bildeten sich unterschiedliche Fraktionen, Flüchtlinge wanderten aus den alten Großstädten aus und gründeten eigene Siedlungen, Banditen und Gesetzlose errichteten weitläufige Lager in der Wildnis. Und trotz dieser bewegten Vergangenheit, die eigentlich an allen Ecken und Enden der Spielwelt zu finden sein müssten, wirkt das Universum von The Outer Worlds kaum älter als ein paar Jahre. 

Und dafür ist besonders eine Ursache verantwortlich: In diesem Spiel wird Vergangenheit erzählt, nicht aber gezeigt. Der schon angesprochene Planet Scylla illustriert anschaulich, was ich damit meine.

Scylla blickt auf eine bewegte Geschichte zurück — allzu viel können wir davon aber nicht sehen.

Beschreibungstexte und Gespräche im Spiel erzählen uns von der dramatischen Besiedlungsgeschichte dieses Planeten am Rande des Sonnensystems, der ursprünglich von der Hephaestus Mining Company besiedelt und schließlich von den Bewohnern wegen Naturkatastrophen und neuer Schürfrechte auf ertragreicheren, anderen Planeten wieder verlassen werden musste.

Wirklich sehen können wir von dieser bewegten Geschichte aber nur wenig: Die Häuser gleichen in ihrer Architektur exakt den Gebäuden auf allen anderen Planeten des Sternensystems. Wir finden keine Friedhöfe, keine Schutthalden, keine Bauruinen, nur ein paar oberflächliche Schäden an den Gebäuden, etwas Müll in den Häuserschluchten. Verschieden alte Gebäudestrukturen oder Hinterlassenschaften, die diese Siedlung als eindeutig alt kennzeichnen, fehlen. Ein Gefühl für Geschichte und für das tatsächliche Alter der Kolonie will so einfach nicht aufkommen.

Die Gräberstraße von Edgewater

Während meiner rund 15 Spielstunden auf den vielen Planeten von The Outer Worlds entdeckte ich nur einen Ort, der seiner eigenen Geschichte tatsächlich auch gerecht wird und der Spielwelt die sonst so von mir vermisste Tiefe verleiht: Edgewater, industrielle Großstadt auf dem Planeten Terra-2 – und gleichzeitig die erste Großstadt, die die meisten Spieler kurz nach Spielbeginn entdecken werden.

Im Gegensatz zu allen anderen Städten der Spielwelt führt im Fall von Edgewater eine breite Ausfallstraße zu den Toren der Stadt. Entlang dieser Straße sind dutzende Gräber angelegt, die sich beim näheren Hinsehen deutlich voneinander unterscheiden — und viel über die Geschichte der Stadt selbst verraten. Antike Gräberstraßen, die die Zugangsstraßen römischer Städte flankierten, dienten hier wohl den EntwicklerInnen als Inspiration.

„Römische Grabbauten waren entlang große Ausfallstraßen vor den Stadttoren aufgereiht. Das Grab war ein wichtiges Mittel zur dauerhaften Präsentation von Rang, Reichtum und Renommee des Grabinhabers und seiner Familie. Es galt als besonders erstrebenswert einen unmittelbar an der Straße gelegenen Bestattungsplatz zu besitzen.“
— (T. Hölscher, Klassische Archäologie – Grundwissen)

Die Ausfallstraße von Edgewater. Links und Rechts im Bildvordergrund: Gräber mit unbeschrifteten und stark verwitterten Grabsteinen.

Einige Schritte zurück: Noch weiter vor den Toren der Stadt entdecken wir die frischen Gräber. Hier markieren grob zugeschnittene Holzplanken die individuellen Liegestätten.

Die Entwickler erlauben uns auch einen Blick auf das Aussehen der Holzsärge, die industriell und einheitlich gefertigt werden.

Links von der Ausfallstraße: Die Gräber sind dicht gedrängt und nicht einheitlich nach einer Himmelsrichtung orientiert.

Folgen wir der Ausfallstraße über die Brücke, die wir in den obigen Bildern sehen, stoßen wir auf zwei neue Gräbertypen: Komplett geschlossene und beleuchtete Gräber (links im Bildhintergrund), sowie eine Art Käfigkonstruktion (rechts), die die Grabstelle überspannt. Beide Typen erfüllen den gleichen Zweck: das Grab und damit auch den Leichnam vor Plünderern oder wilden Tieren schützen.

Direkt an der Stadtmauer entdecken wir ein Unikat: Eine Gruft, die ihr Innerstes mit einem architektonisch aufwändigen Überbau vor der Umwelt abschirmt.

Im Büro des Bestatters finden wir auf seinem Arbeitscomputer eine aufschlussreiche Mail, die uns mehr über die Bestattungsformalitäten dieser Welt verraten: Ähnlich wie auch in unserer realen Welt müssen Angehörige die Gräber ihrer Verstorbenen selbst bezahlen und können, die dann — gegen eine Gebühr — von der Megafirma Spacer’s Choice gepflegt werden.

Jeder Verstorbene erhält einen eigenen Datenbankeintrag, der Namen, Todesursache und Liegeplatz des Verstorbenen auflistet. Auch für Anmerkungen des Bestatters gibt es einen eigenen Eintrag.

Die Gräberstraße von Edgewater erlaubt einen in dieser Spielwelt seltenen Blick in die Geschichte einer Gesellschaft, die an diesem Ort seit Jahrzehnten unter der Aufsicht des Megakonzerns Spacer’s Choice lebt, schuftet — und stirbt.

Die Anlage erinnert dabei in Form und Organisation stark an antike Gräberstraßen „unserer“ Welt: Wer es sich leisten kann, lässt sich möglichst nah an der Straße oder der Stadtmauer selbst begraben und investiert viel Geld in Schutzvorkehrungen, um Körper und Grabstelle vor Leichenfledderei zu schützen. Weniger vermögende Stadtbewohner müssen mit den einfachsten Gräbern weit vor den Toren der Stadt vorlieb nehmen, die gleichermaßen von Plünderern und wilden Tieren gestört werden können.

Diese Hierarchisierung der Toten ist ein Spiegel der Hierarchisierung der Lebenden: Wer Edgewater zum ersten Mal besucht, weiß noch vor dem Betreten der Stadt, dass hier eine Leistungsgesellschaft existiert und bewusst gelebt wird. Vermögende und Einflussreiche bleiben auch nach dem Tod eng mit der Stadt verbunden. Alle anderen leben und sterben wortwörtlich am Rande der Gesellschaft.

Dom Schott hat Archäologie studiert und schreibt heute als freier Journalist besonders gerne über spannende Online-Communities, Netzkultur und seine zwei Kater.

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