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Vom Tellerwäscher zum Säbelrassler: Wie ein Sklave die Gesellschaftsordnung der Orks an ihre Grenzen treibt

Ein Blick hinter die Kulissen von Mittelerde offenbart eine erstaunliche Dynamik: Ausgerechnet die Orks haben das Prinzip des “American Dream” für sich entdeckt und folgen dieser Idee außerordentlich konsequent. Aber wie weit geht diese soziale Mobilität wirklich?

Für die Menschen in der Welt von Mittelerde: Schatten des Krieges, das lose an die Buchvorlagen von Tolkien angelehnt ist, sind Orks das urtümlichste Feindbild schlechthin. Sie sind, so das Narrativ des Spiels, der lebende, stinkende und primitive Gegenentwurf zur zivilisierten Welt, die in großen Metropolen nach mittelalterlicher Gesellschaftsordnung lebt: In diesem streng geregelten Kosmos der Menschheit bewachen Ritter ihren König, Soldaten dienen ihrem Vaterland und Bauernfamilien bestellen geflissentlich den Acker. Jeder kennt seinen Platz und strenge Gesetze wachen über den Status Quo.

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In großen Städten wie diesen verteidigt unser Held die Menschen Seite an Seite mit Rittern und Soldaten in strahlenden Rüstungen vor „dem Bösen“ (Warner Bros.)

Die Orks hingegen wollen nichts anderes, als die Welt der Menschen zu zerstören. Zu Hunderttausenden erbrechen sie sich in blindem Hass in die fruchtbaren Täler, verunreinigen Flüsse, zerstören Wälder, ermorden ihre Opfer auf brutalste Weise. Sie kennen keine Ordnung, sondern lieben das Chaos. Sie sind kulturlose Barbaren. Doch ausgerechnet hinter dieser mordsbrutalen Fassade verbergen sich die Ausläufer einer orkischen Leistungsgesellschaft, die die Vision des “American Dream” für sich entdeckt hat.

“Nichts als Barbaren und Fremde”: Der Tacitus-Effekt

Auf den ersten Blick scheinen Begriffe wie “Leistungsgesellschaft”, “Ordnung” und “Orks” unvereinbar zu sein – eine Folge der vorherrschenden Darstellungsweise der Grünhäuter in Film, Spielen und Literatur als primitive, grobschlächtige und kriegsliebende Monster. Und auch Mittelerde: Schatten des Krieges reiht sich zunächst in diese Tradition ein, macht uns zum Zeuge ihrer Brutalität und illustriert ihre Bedrohung für die ach so heile Welt von Mittelerde. Diese verengte und – wie es sich herausstellen soll – verfälschende Darstellung eines uns fremden Volkes nenne ich “Tacitus-Effekt”:

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Zähnefletschend, schwer bewaffnet, mordlustig und kampferprobt: Ein Ork, wie er im wahrsten Sinne des Wortes im Buche steht (Warner Bros.)

Ganz ähnlich wie der römische Historiker im 1. Jh. n. Chr. den daheimgebliebenen Landsmännern allerlei schreckliche und skurrile Anekdoten über die Germanen erzählte und damit das Bild des Barbaren in den Köpfen der Leser verhärtete, funktioniert auch der Spieleinstieg von Mittelerde: Schatten des Krieges. Vor unseren Augen wird ein verkürztes Bild der Orks gezeichnet, das wir bereits aus anderen Medien kennen und deswegen bereit sind, zu glauben. Ziel dieser einseitigen Darstellung ist die Überhöhung des eigenen Lebensstils im scharfen Kontrast zur vermeintlichen Rückständigkeit „der Anderen“.

Dieses Konstrukt allerdings geriet ins Wanken, als ich mehr und mehr Zeit hinter den feindlichen Linien verbrachte und aus nächster Nähe das Treiben der Orks beobachten konnte. Zu einem gewissen Grad ist dieser “Aha-Moment” von den Entwicklern dabei auch beabsichtigt: Die Orks pflegen teilweise einen erstaunlich treffsicheren Humor, philosophieren vor sich hin oder rezitieren ganze Lieder und Gedichtbände. Doch die Komplexität ihres Wesens reicht in dieser Spielwelt noch tiefer als bis zum comic relief eines grünhäutigen Hünens, der “Oghar der Trinker heißt” und sichtlich alkoholisiert über das Schlachtfeld wankt.

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Die Darstellung der Orks spielt mit scheinbar widersprüchlichen Attributen – doch die Komplexität der Grünhäuter reicht noch tiefer (Warner Bros. / Kotaku)

Aufmerksam auf diese überraschende Komplexität wurde ich erstmals, als mir während meiner ersten Ausflüge eine Gruppe ungewöhnlich blasser Orks entgegen rannte, die nur mit einem Lendenschurz bekleidet waren und auf ihrer Stirn ein kreisförmiges, rotes Tattoo trugen. Sie flüchteten vor einem klassischen Ork in schwerer Rüstung, der mit erhobener Peitsche hinter der Gruppe nachjagte. Nur wenige Meter weiter entdeckte ich noch mehr der hellhäutigen Orks, die in einem Steinbruch arbeiteten und dabei von Wachen beaufsichtigt wurden. Es waren Sklaven!

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An einigen Orten der Spielwelt können wir Ork-Sklaven bei ihrer harten Arbeit beobachten. Sie alle sind außergewöhnlich hellhäutig und haben ein rotes Tattoo auf der Stirn (Warner Bros.)

Für einen Außenstehenden mag diese Beobachtung trivial wirken: Natürlich müssen sich derart “primitive” Völker wie Orks Sklaven halten, die aus irgendeinem Grund die Drecksarbeit erledigen müssen – so oder so ähnlich könnte ein Gedankengang aussehen. Die Beobachtung passt zu dem Klischeebild in unseren Köpfen.

An Brisanz gewinnt diese Entdeckung allerdings, wenn wir einen vergleichenden Blick auf die Welt des Vorgängerspiels werfen, das seine Geschichte im gleichen Kosmos wie Schatten des Krieges erzählt. Auch dort kämpfen wir gegen Orks, auch dort halten sie sich Sklaven – allerdings sind es in diesem Fall Menschen, Kriegsgefangene.

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Ein sichtlich ängstlicher Ork flieht in meine Richtung (Warner Bros.)

Das macht das Phänomen der Sklaverei moralisch nicht besser, aber verändert die Organisation dieser Gesellschaftsschicht auf ganz grundsätzliche Art und Weise: In Schatten des Krieges mache Orks ihresgleichen zu Sklaven, brandmarken sie und schließen sie vom gesellschaftlichen Alltag aus. Doch für die Opfer gibt es offenbar einen erstaunlichen Ausweg aus dieser Lebenssituation.

Living the Americ.. Orcish Dream

Die Spielwelt von Mittelerde: Schatten des Krieges macht den Orks trotz all ihrer Einfachheit und Liebe zur Anarchie ein gesellschaftliches Zugeständnis: Es herrscht das Recht des Stärkeren und das wird konsequent durchgesetzt. Erschlägt ein Ork einen Gegner im Kampf, gewinnt der Sieger an Prestige, Einfluss, besserer Ausrüstung und gliedert die Gefolgschaft des Verlierers in seine eigenen Reihen ein. Es ist ein stillschweigend getroffener Gesellschaftsvertrag: Theoretisch kann ein gerissener und talentierter Ork vom einfachen Krieger zum mächtigen Feldherren werden, wenn er das Zeug dazu hat – eine Fantasy-Umdeutung des amerikanischen Traums, die im Vergleich zur Gesellschaftsordnung der Menschen dieser Welt mit ihrer festen Feudalstruktur unlängst moderner erscheint.

Im normalen Spielverlauf konzentriert sich dieser ständige Kampf um Ruhm und Ehre auf die etablierten Kriegergruppen, die von Geburt an offenbar nichts anderes getan haben, als jeden Zentimeter ihres Körpers zur Waffe zu machen. Damit lag für mich eine bisher nicht gestellte Frage auf der Hand: Ist dieses System so konsequent und so einflussreich, dass selbst gesellschaftliche Außenseiter wie die orkischen Sklaven aus eigener Kraft zu Aufsteigern werden können?

Um das Maß dieser sozialen Mobilität auszutesten, habe ich ein Experiment gewagt und meine Spielfigur von einem Sklaven-Ork erschlagen lassen. Dieser Erfolg sollte seine Krieger-Karriere in Schwung bringen – sofern das denn möglich war.

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Der entscheidende Moment meines Experiments (Warner Bros.)

Doch diesen Totschlag zu inszenieren, war gar nicht mal so einfach: Der namenlose und abgemagerte Arbeiter griff mich erst mit einem Holzknüppel an, als keiner der Aufseher mehr am Leben war und jeder Fluchtweg abgeschnitten war – Zufall oder ein Verhaltensschema, das die Spielwelt ausschließlich ihren Sklaven zugeschrieben hat?

Nach einigen Versuchen schaffte er es aber schließlich, meinen Lebensbalken zu leeren und bevor ich mich in den Ladebildschirm verabschiedete, erhielt ich tatsächlich die erhoffte Botschaft: Der Sklave, der nun mit dem Namen Tuhorn vorgestellt wurde, ist dank seiner Heldentat im gesellschaftlichen Rang aufgestiegen! Jetzt ist er ein einfacher Krieger – immerhin – und besitzt eine Rüstung sowie eine bessere Waffe. Seine gesellschaftliche Herkunft aber ist immer noch erkennbar, denn Tuhorn trägt nun den Beinamen “der Sklave”. Unklar bleibt, ob diese Benennung von ihm selbst oder den anderen Orks stammt, doch eines beweist das Experiment bereits: Die soziale Mobilität der orkischen Leistungsgesellschaft in Mittelerde ist erstaunlich konsequent und gibt auch Außenseitern aus den untersten Schichten eine Chance zum Aufstieg. Die Herkunft ist egal, solange die Leistung stimmt.

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Tuhorn wird nach dem erfolgreichen Mord an meiner Spielfigur zum stattlichen Krieger und trägt nun einen vielsagenden Beinamen (Warner Bros.)

Doch damit ist das Experiment noch nicht beendet, sondern wirft weitere Fragen auf: Erkennt das Spielsystem die niedere Herkunft von Tuhorn über die Namensgebung hinaus? Werden die alteingesessenen Orks Bemerkungen über seine Vergangenheit machen? Ist die helle Hautfarbe von Tuhorn Folge oder Grund seiner Sklaverei gewesen? Was bedeutet sein Tattoo? Und wie funktioniert Rassismus in der orkischen Gesellschaft von Mittelerde? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, werde ich Tuhorns Werdegang in Mittelerde begleiten und hoffentlich bald mit neuen Erkenntnissen über die Realität des orkisch-amerikanischen Traums zu euch zurückkehren.

Dom Schott hat Archäologie studiert und schreibt heute als freier Journalist besonders gerne über spannende Online-Communities, Netzkultur und seine zwei Kater.

2 Kommentare zu “Vom Tellerwäscher zum Säbelrassler: Wie ein Sklave die Gesellschaftsordnung der Orks an ihre Grenzen treibt

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