Selbst wer noch so pessimistisch in die Spielelandschaft sieht, der muss zugeben, dass sich in den letzten Dekaden doch einiges getan, gewandelt und modernisiert hat. Zwar sind jahrzehntealte Motive wie “die Frau in Not”, nahezu surreal idealisierte Körperbilder, oder eine verengte, westlich geprägte Perspektive auf Themen wie Kolonialismus oder Zivilisation noch immer Teil des jährlichen Spielekatalogs – doch mittlerweile gibt es auch vermehrt Alternativen: Spiele, die neue Heldenfiguren definieren, Stereotypen auflösen und inklusiv statt exklusiv sein wollen. Gerade vor diesem Hintergrund wirken dann die Negativbeispiele allerdings umso erstaunlicher.
Das neueste prominente Beispiel, das alte und keineswegs unproblematische Bildthemen konserviert und erst kürzlich in HD-Grafik wieder aufgewärmt hat, ist Darksiders 3. Diese beliebte Spielereihe jagte erst 2010, dann 2012 zwei Reiter der Apokalypse auf Dämonen, Monster und anderes Gekräusel, während wir in den Kampfpausen dazwischen mit Schalterrätseln und Kletterspielen gefordert werden. Nun wurde ein dritter Teil angekündigt, der nach den beiden männlichen Vorgängern “Krieg” und “Tod” die weibliche Kämpferin “Wut” in den Ring schickt. Hier der Ankündigungstrailer:
Wir sehen: Wut trägt einen Ausrüstungsgegenstand, der in der Videospielwelt eine lange Tradition hat — die sogenannte Boob Armor. Wie der Name bereits wenig subtil andeutet, bezeichnet Boob Armor eine Rüstung, die die weiblichen Brüste auf verschiedenste Weise optisch akzentuiert. Das kann zum einen durch ein Nachempfinden und Nachformen oder durch ein Aussparen der Brust passieren.
Ihre eigentliche Aufgabe als Schutz kann eine solche Rüstung in einer Spielwelt nicht erfüllen – dieses Faktum ergibt sich aus gesundem Menschenverstand oder, wem das nicht genügt, dem Blick in die Forschungsarbeit der experimentellen Archäologie.
Nein, Entwickler, Illustratoren und Autoren legen ihren Figuren eine Boob Armor aus ästhetischen Gründen an: Der notwendige Schutz eines Charakters oder das Sichtbarmachen gesammelter Ausrüstungsgegenstände soll nicht dazu führen, die Weiblichkeit der Figur unter einer Rüstung zu verbergen. Die Boob Armor stellt hier den Kompromiss dar. Problematisch ist dieses Design ganz grundsätzlich, weil es den impliziten Wunsch verdeutlicht, dass die sexuelle Attraktivität eines weiblichen Charakters nicht durch eine notwendige Körperrüstung wortwörtlich überdeckt werden soll oder darf.
Das Gegenstück
Die Boob Armor wird nicht angelegt, um sich möglichst gut vor gegnerischen Angriffen zu schützen, sondern die feminin-attraktive Geschlechtlichkeit in den Vordergrund zu rücken. Wäre es da nicht nur logisch, auch den männlichen Spielfiguren in einer solchen Spielwelt eine vergleichbare Ausrüstung zur Verfügung zu stellen? Wer hier instinktiv mit dem Kopf schüttelt, sollte sich ernsthaft fragen, warum das so unmöglich erscheint. Allen anderen möchte ich das männliche Gegenstück zur Boob Armor präsentieren, das es allerdings sogar tatsächlich einmal gegeben hat: Die Schamkapsel.
Die Schamkapsel, die auch unter dem Begriff “Braguette”, “Gliedschirm” oder einfach “Latz” tradiert wurde, war eine sehr beliebte, vorwiegend europäische Männermode im 15. und 16. Jahrhundert. Die Schamkapsel bezeichnet eine ausgepolsterte Beule auf der Höhe des männlichen Glieds und entwickelte sich aus der Hosenmode des frühen 15. Jahrhunderts. Form und Farben der Schampkasel kennen kaum Grenzen und können neben einfachen Kugeln auch die Umrisse von Bananen oder Gurken nachempfinden. Die Mode der Schamkapsel mit ihren unverkennbaren sexuellen Implikationen gewann schnell an Beliebtheit und wurde als metallener Genitalschutz auch auf ritterliche Rüstungen übertragen.

Der eigentliche Vorteil dieser Vorrichtung im Militärkontext war allerdings die Möglichkeit, bei erhöhtem Harndrang die Schamkapsel einfach abnehmen und urinieren zu können, anstelle direkt einen großen Teil der Rüstung ablegen zu müssen. Im Kampf hingegen bot die prominente Kugel oder Gliedfortsatz nicht wesentlich mehr Schutz, sondern übertrug die wirkenden Kräfte eines direkten Schlages spürbar auf den Unterleib, während immerhin Pikenspitze einigermaßen effektiv abgewehrt werden konnten.

Diese Erkenntnis sowie die scharfe Kritik der Kirche, die in der Schamkapsel das Symbol ständiger sexueller Potenz erkannte, sorgte schließlich wieder für ein Verschwinden der Kapsel, nachdem sie über 100 Jahre lang der Hingucker in europäischen Adelshäusern und auf westlichen Schlachtfeldern gewesen war.
Die Schamkapsel erfüllt damit einen ähnlichen ästhetischen Sinn wie die Boob Armor, verfügte im Gegensatz zu ihrem weiblichen Gegenstück aber auch eine grundlegende Schutzfunktion und hat sogar tatsächlich einmal existiert – und doch findet sie in der Videospielwelt schlichtweg nicht statt. An diese Erkenntnis lassen sich mehrere Fragen anschließen, die sich auf ein grundlegendes Fragezeichen herunterbrechen lassen:
Wieso existiert in ein und derselben Spielwelt die Boob Armor für weibliche Charaktere, während das direkte Äquivalent für männliche Charaktere, das tatsächlich sogar noch einen historischen Hintergrund hat, nicht existent ist? Nicht einmal in abweichender, „zeitgemäß cool“ stilisierten Form vom tradierten Original?
Die Antwort hierauf liegt auf der Hand. Die Lösung des Dilemmas ebenfalls: Wer Boob Armor sagt, muss auch Schamkapsel sagen. Alles andere ist entlarvend.
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