Als ich zum ersten Mal in der altägyptischen Spielwelt von Assassin’s Creed Origins die antike Metropole Alexandria betrat, kam ich aus dem Staunen kaum noch heraus. Die Stadtanlage, über die ich schon so viel gelesen hatte, breitete sich für mich frei erkundbar auf dem Bildschirm aus und lockte mich mit Sehenswürdigkeiten wie dem Serapeion, der Pferderennbahn oder natürlich der Großen Bibliothek.

Nachdem ich die interessantesten Touristenplätze abgeklappert hatte, wurde ich auf ein Glucken und Gackern vor meinen Füßen aufmerksam. Erst jetzt bemerkte ich, dass in den meisten Stadtvierteln von Alexandria überall Hühner auf der Straße unterwegs waren. Einige spielten mit Kindern, andere gurrten verträumt in der Sonne und manche standen einfach nur in der Gegend herum.
Eigentlich ein triviales Detail einer Spielwelt, die so viel aufregende Dinge zu bieten hat, doch seit meinen unzähligen Stunden mit dem Rollenspiel Skyrim ist mein Verhältnis zu diesen Nutztieren gestört. Denn wird eines dieser Tiere in jener nordischen Fantasy-Welt vom Spieler angegriffen, schlägt sofort das gesamte Dorf Alarm, bewaffnet sich bis an die Zähne und jagt den Hühner-Belästiger wütend brüllend in den nächsten Wald.
Aber sorgte ein Ableben dieser Tiere auch in Assassin’s Creed Origins für solch anarchische Zustände?
Meine Neugierde gewann über meinen gesunden Menschenverstand und ich nahm ein Huhn mit meinem Bogen auf’s Korn. Der Pfeil flog durch die Luft – und schoss direkt durch das verwirrt dreinblickende Federvieh hindurch. Ha, interessant, die Hühner von Assassin’s Creed Origins scheinen also unsterblich zu sein. Einen wirklichen Grund dafür konnte ich mir dafür nicht vorstellen und tippte entweder auf eine Art virtueller Tierschutz oder eine bewusste Lücke im Entwicklungsprozess des Spiels, um Zeit und Kosten zu sparen – denn wer würde schon auf die Idee kommen, ein Huhn abzuschießen?
In der Hoffnung, niemals jemand von diesem Moment erzählen zu müssen, stürzte ich mich wieder auf die nächsten Quests, doch nun lenkte mich etwas anderes von meinem gold leuchtenden Missionszeiger ab: Eine Katze.
Ich glaube, ich habe in noch keinem Videospiel so viele herumlaufende Katzen beobachten können, wie in Assassin’s Creed Origins. Der Grund dafür liegt in der besonderen Beziehung zwischen Spielwelt und diesen Tieren. Um hunderte Aufsätze und Lehrbücher zu diesem Thema auf das Wesentliche herunterzubrechen: Wilde wie auch domestizierte Katzen waren den alten Ägyptern heilig. Und während die Fellknäuel Haus und Hof vor Kobras und anderen ungebetenen Gästen beschützten, errichteten die Menschen kleine Altäre, an denen sie den Tieren Dankesgaben preisgaben und sie schließlich sogar nach ihrem Tod mumifizierten. Der antike Autor Herodot berichtet uns sogar von einer verstörenden Szene, bei der er Augenzeuge war und die ihm die Bedeutung dieser Tiere vor Augen führte: Als ein Ägypter nach einer herumlaufenden wilden Katze trat, die seinen Weg gekreuzt hatte, stürzten sich die umstehenden Menschen sofort auf den Tierquäler und schlugen ihn zornig blutig.
Und hier stand ich nun mit meinem Bogen und wollte herausfinden, was passiert, wenn ich in dieser Spielwelt eine Katze attackierte. Ja, ich weiß, wie das klingt.
Ein Schuss genügte, um das Tier tatsächlich zu töten und es nach einer kurzen Animation in einer Blutlache zusammenbrechen zu lassen. Und während ich mich noch selbst dafür ausschimpfte, geschah etwas sehr interessantes: Ein Warnhinweis erschien unübersehbar auf dem Bildschirm und erklärte mir, dass ich keine Katzen verletzen darf. Sie seien den Medjai, ein religiöser Orden, zu dem auch meine Spielfigur gehört, heilig.
Doch nicht nur das: Umstehende Passanten, die zuvor meinen Hühnchen-Mordversuchen desinteressiert zugesehen hatten, schrieen nun erstaunt und panisch auf. Einige traten zurück, andere machten aggressive Gesten in meine Richtung und drohten mir. Es war, als wären Herodots Zeilen zum Leben erwacht.
Die Hühnchen sind also unsterblich, die Katzen nicht. Und was bedeutet das nun?
Das ist sehr spannend, denn ich glaube, dass diese Beobachtung die grundlegende (und folgenreiche) Philosophie sichtbar macht, nach deren Vorbild Assassin’s Creed Origins aufgebaut ist.
Diese Spielwelt im Alten Ägypten ist entgegen der häufigen Annahme keine dynamische Open World, die darum bemüht ist, jede noch so kleine Handlung von uns mit Konsequenzen zu bedenken, die die Geschichte auf die eine oder andere Weise weiter erzählt. Vielmehr ist Assassin’s Creed Origins als eine gigantische Museumsausstellung konzipiert, das ein fest eingegrenztes Kapitel der Menschheitsgeschichte erlebbar macht.
Entwickler und Historiker haben sich für dieses Museum einen Lehrplan ausgedacht, der uns verschiedene Einblicke in die historische Lebenswelt ermöglichen soll – abseits dieser vorbereiteten Unterrichtseinheiten führen unsere Handlungen allerdings mehr oder weniger in eine Sackgasse.

Der Status der Katzen im Alten Ägypten ist eine dieser Lektionen und darum reagiert die Spielwelt auch sinnvoll auf unsere Handlung. Der Spieler soll über das besondere Verhältnis zwischen Katze und Altägyptischer Gesellschaft unterrichtet werden: Während der Hinweistext als eine Art kürzestes Lehrbuch der Welt die wesentlichen Informationen vermittelt („Katze = heilig!“), konfrontiert uns die Spielwelt zusätzlich mit einer spürbaren Konsequenz: Umstehende Zeugen sind bestürzt und wütend. Mehr bedarf es nicht, um den besonderen Status der Katze im Alten Ägypten zu verinnerlichen. Lektion gelernt.
Das Huhn hingegen ist reine Spielweltdekoration ohne Lehrinhalt (oder für den Spieler verwertbare Ressourcen unter dem Federkleid) und wurde deswegen mit einer “Ist ohnehin egal”-Unsterblichkeit gesegnet.
Wäre eine reine Glaubwürdigkeit der Spielwelt an oberster Stelle der Prioritätenliste während des Entwicklungsprozesses von Assassin’s Creed Origins gestanden, würden sicher auch die Hühner der Spielwelt sterben können. Doch um diese Art der Glaubwürdigkeit geht es diesem Spiel im Gegensatz zu den meisten seiner Genre-Verwandten nicht: Stattdessen steht die Glaubwürdigkeit der historischen Rekonstruktion im Vordergrund – und die ist zwar häufig, aber nicht immer mit dem Wunsch nach allumfassender Authentizität gleichsetzbar. Und genau das ist der Grund dafür, warum in der Welt von Assassin’s Creed Origins einige Tiere unsterblich sind und andere nicht.
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