Im Blickpunkt

Historisch, wo es gefällt: Wie Anno 1800 die Geschichte umdeutet

Anno 1800 gibt SpielerInnen alle Werkzeuge in die Hand, um während der Industriellen Revolution zur Wirtschaftsmacht aufzusteigen. Dabei verschweigt das Spiel ein Phänomen der Zeit. Die Argumente der Entwickler sind fadenscheinig — und verdienen Kritik.

Am 26. August 2017 erreicht der GameStar-Livestream mit Dirk Riegert nach etwa 14 Minuten einen bemerkenswerten Höhepunkt. Eben noch hatte der Creative Director von Blue Byte über sein aktuelles Projekt Anno 1800 geplaudert, eine historische Wirtschaftssimulation, die sich um die europäische Industrialisierung dreht. Dann allerdings wird er mit der Frage aus dem Chat konfrontiert, ob auch der Sklavenhandel in Anno 1800 eine Rolle spielen werde — und das entlockt Dirk Riegert eine erstaunliche Antwort:

„[Sklavenhandel] wurde im 19. Jahrhundert betrieben, ja, das stimmt, aber auch nur eingeschränkt. Denn, ich sag mal, in Großbritannien war es zu der Zeit bereits geächtet, in Amerika wurde es, ich glaube, 1840 — aber das wissen bestimmt Leute im Internet gerade besser, die mal kurz bei Wikipedia nachschauen können — wurde das glaube ich dann auch offiziell abgeschafft, wurde teilweise in den Kolonien noch fortgeführt.

Also wir haben uns auch mit dem Thema beschäftigt, man muss aber bei so einem Thema, das sehr sensibel ist, da vorsichtig sein. Einerseits wird es sicherlich in irgendeiner Form aufgrund des Settings aufblitzen, aber es wird andererseits auch nicht so sein, dass man sagt — Sklavenausbeuter werden [Einwurf von GameStar-Chefredakteur Heiko Klinge]  — nein, nein, nein. So wird es das nicht geben. Das wäre auch unlauter und würde auch die Leute durch die Spielmechanik auf einen Weg zwingen, wo man sich unwohl fühlt.“ 

Mit anderen Worten: Eine der bekanntesten, langlebigsten und kommerziell erfolgreichsten Wirtschaftssimulationen überhaupt wird mit Anno 1800 das Zeitalter der Industrialisierung spielbar machen, aber Sklaverei und Sklavenhandel weitestgehend, wenn nicht sogar komplett, aus seiner Spielwelt verbannen — zum einen, weil das den historischen Tatsachen entspräche, zum anderen, weil es nicht ethisch vertretbar sei, SpielerInnen „auf den Weg des Sklavenhalters zu zwingen“.

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Dirk Riegert (l.): „Also wir haben uns auch mit dem Thema beschäftigt, man muss aber bei so einem Thema, das sehr sensibel ist, da vorsichtig sein.“ (Bild: Screenshot YouTube, Livestream GameStar)

Eine genaue Analyse dieser Argumente enttarnt diese Argumentation allerdings als das, was sie eigentlich ist: Inhaltlich falsche Feel-Good-Programmatik und Etikettenschwindel. Das verdient Kritik, die bisher ausblieb.

Wo endet künstlerische Freiheit, wo beginnt Geschichtsrevisionismus?

Videospiele, die sich um einen historischen Schauplatz drehen oder Kapitel aus der realen Menschheitsgeschichte nacherzählen, bewegen sich in einem einzigartigen Spannungsfeld: Auf der einen Seite steht der Anspruch an ein möglichst gelungenes Produkt, das ansprechende Spielmechaniken mit den Wünschen der Zielgruppe vereint. Auf der anderen Seite muss dieser Anspruch mit den Vorgaben des jeweiligen historischen Schauplatzes vereint werden.

Die Konsequenz daraus ist die Suche nach Kompromissen. Entwicklerteams müssen sich die Frage stellen, wie viele Freiheiten sie sich bei der Erschaffung ihrer Spielwelten nehmen können, ohne den historischen Schauplatz bis zur Unkenntlichkeit verändern.

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In Assassin’s Creed Origins, das im Alten Ägypten spielt, haben sich die Entwickler immer wieder Standorte für römische Forts ausgedacht, um ein besseres Spielerlebnis anbieten zu können. Mit der historischen Überlieferung hat das wenig zu tun — schadet ihr aber in diesem Fall auch nicht empfindlich. (Bild: Ubisoft)

Spiele wie Anno 1800 allerdings gehen noch einen Schritt weiter: Sie verbannen Themen und Phänomene aus ihren historischen Spielwelten, die eigentlich fest mit den jeweiligen Schauplätzen verwoben sind. Denn entgegen der Argumentation von Dirk Riegert haben die Entwickler hier nicht etwa die Geschichte auf ihrer Seite, wenn sie Sklavenhandel aus einer Wirtschaftssimulation rund um die Industrialisierung verbannen.

Ich bat Prof. Dr. Jürgen Zimmerer von der Universität Hamburg darum, die Argumentation von Dirk Riegert zu bewerten. Der Dozent ist Experte für die Geschichte Afrikas und Leiter der Forschungsstelle „Hamburgs Postkoloniales Erbe“ — und kritisierte Riegerts Aussage, dass Sklaverei im Laufe des 19. Jahrhunderts eine zunehmend geringe Rolle gespielt habe, mit deutlichen Worten:

„Falsch. Komplett Falsch. Zwar wird der transatlantische Sklavenhandel 1807 von Großbritannien verboten, die Sklaverei wird aber selbst in britischen Kolonien noch 30 Jahre weiter zugelassen. Der Sklavenhandel auf Schiffen anderer Mächte findet bis ins letzte Drittel des 19. Jh. statt und in den USA wird 1865 ein Bürgerkrieg geführt um das Recht Sklaven zu halten.“

Das Phänomen der Sklaverei und des Sklavenhandels ist während der Spielzeit von Anno 1800 also nicht nur weiterhin relevant und unter den sich industrialisierenden Großmächten verbreitet, sondern außerdem ein wesentlicher Baustein, der die Industrialisierung erst möglich gemacht hat, wie Zimmerer weiter erklärt:

„Und es ist so, selbst wenn man sich auf die Industrialisierung konzentriert, ist klar, die Textilindustrie, die ja maßgeblich an der Industrialisierung beteiligt war, bezog ein Großteil der Baumwolle aus dem Süden der USA, da wurde praktisch in Sklavenarbeit Baumwolle produziert. Ganz zu schweigen davon, dass bei der Aufhebung der Sklaverei in den britischen Kolonien die Sklavenhalter entschädigt wurden, nicht die Sklaven. Und diese Entschädigungszahlungen — basierend auf einem Kredit, der erst 2015 völlig abbezahlt war — waren ein maßgeblicher Finanzierungsfaktor zum Beispiel für den Eisenbahnbau in Großbritannien. Also, an der Aussage ist eigentlich alles falsch.“

Das historische Argument von Dirk Riegert ist also ungenau, ja sogar inhaltlich falsch. Der Schauplatz von Anno 1800 würde sehr wohl die Möglichkeit hergeben, Sklaverei als Spielmechanik zu implementieren, ohne das Selbstverständnis als historische Wirtschaftssimulation aufgeben zu müssen.

Verschweigen oder thematisieren — gibt es eine Wahl?

Doch es scheint naiv anzunehmen, dass Sklavenhandel als Feature nur deswegen nicht in Anno 1800 vorkommt, weil Blue Byte nicht ordentlich recherchiert hat. Stattdessen liegt es nahe, dass Dirk Riegerts zweites, ethisches Argument ausschlaggebend dafür war, dieses Phänomen in der Spielwelt weitestgehend zu verschweigen: Sklaverei sei ein sensibles Thema, man wolle den Spieler nicht auf diesen Weg zwingen und zum Sklavenhalter machen, es handele sich immerhin um ein „Feel-Good-Aufbauspiel“ und nicht etwa um „Satire“.

Sklaverei soll also das gemütliche Aufbauspiel in in der industriellen Spielwelt von Anno 1800 nicht trüben, indem sich SpielerInnen dazu gezwungen sehen, selbst am Sklavenhandel teilzunehmen. Hier drängt sich eine offensichtliche Rückfrage an: Ist es wirklich besser, ein gesamtgesellschaftliches Phänomen komplett zu verschweigen und zu streichen statt es als ambivalente Spielmechanik zu thematisieren?

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Wenn Spieler in Total War: Rome 2 regelmäßig Feinde versklaven, stärken sie zwar kurzfristig ihre Wirtschaft, belasten aber auch die allgemein Zufriedenheit der eigenen Bevölkerung. Das mag keine sonderlich feinsinnige Auseinandersetzung mit Sklaverei als Phänomen sein — aber verschweigt es auch nicht. (Bild: Sega)

Andere Spiele haben dieses Scheinproblem lange vor Anno 1800 gelöst: In dem Strategiespiel Stellaris beispielsweise können bestimmte Bevölkerungsgruppen eines Planeten versklavt werden, was sie zu effektiveren Arbeitskräften macht, gleichzeitig aber die Forschungsrate spürbar verlangsamt, mit der neue wissenschaftliche Errungenschaften freigeschaltet werden können. Mit anderen Worten: Wer im großen Maßstab auf Sklaverei setzt, um die Produktions von Wirtschaftsgütern anzukurbeln, bezahlt hier mit dem intellektuellen und wissenschaftlichen Rückwärtsgang für die eigene Nation.

Auch in dem historischen Strategiespiel Total War: Rome 2 spielt Sklaverei eine ambivalente Rolle: Nach jeder gewonnen Schlacht kann der Spieler entscheiden, ob er die Gefangenen der feindlichen Fraktion versklaven und als Arbeitskräfte in die eigenen Städte schicken will. Tut er das, kurbelt er das Bruttoinlandsprodukt des Reiches an, riskiert allerdings bei zu vielen Sklaven in einer Stadt gesellschaftliche Unruhen, Aufstände und flächendeckende Unzufriedenheit.

Diese Spiele vermeiden es, Sklaverei, die immer ein Teil der Menschheitsgeschichte war, völlig auszublenden und damit auch im Rahmen ihrer Spielwelt zu leugnen. Stattdessen machen sie den Menschenhandel zum optionalen Teil ihrer Spielerfahrung, die immer auch Nachteile mit sich bringt. Damit fordern sie die SpielerInnen heraus, Sklaverei im Kontext der Spielwelt kritisch zu reflektieren. Titel wie Stellaris oder Total War: Rome 2 demonstrieren jeweils deutlich, dass die Versklavung anderer Menschen natürlich keine optimale Entscheidung ist, weder im wirtschaftlichen, noch im ethischen Kontext.

Die Furcht vor einem Etikett frisst offenbar jedes Gefühl für Verantwortung

Warum sich das Entwicklerteam nicht zutraut, eine ähnliche ambivalente Spielmechanik für den Sklavenhandel in Anno 1800 zu finden, konnte und wollte Blue Byte bisher nicht erklären. In keinem der Interviews, die ich gesichtet habe, wurden entsprechende Rückfragen gestellt. Mehrere Anfragen von ArchaeoGames beim Publisher Ubisoft blieben dahingehend unbeantwortet.

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Auch an anderen Stellen lässt Anno 1800 angebrachtes Feingefühl angesichts seines historischen Schauplatzes vermissen: Statussymbole des europäischen Imperialismus, der zehntausende Leben gekostet hat, verkommt hier zum Vorbestellerbonus für Fans. (Bild: Ubisoft)

Ein Spiel wie Anno 1800, das sich bewusst und deutlich erkennbar an ein historisches Kapitel der Menschheitsgeschichte anlehnt, darf natürlich zunächst einmal mit seiner Spielwelt machen, was es möchte. Es gibt keine Geschichtspolizei, die erst jedes Detail auf historische Akkuratesse untersucht, bevor das Spiel zum Verkauf freigegeben wird.

Allerdings macht es einen Unterschied, ob eine Wirtschaftssimulation zur Zeit der Industrialisierung fiktive Inselketten zur Kolonialisierung anbietet und einige Handelswaren vorstellt, die es im frühen 19. Jahrhundert vielleicht noch gar nicht in dieser Form gegeben hat, oder ob diese Spielwelt willentlich und wissentlich eines der zentralen Phänomene seiner historischen Spielwelt komplett verschweigt  — oder am Rande „irgendwo aufblitzen lässt“. Das hat ein Geschmäckle, das Prof. Dr. Jürgen Zimmerer im Interview mit ArchaeoGames mit folgenden Worten zusammenfasst:

„Ich finde das hochproblematisch. Weil dadurch, dass Anno 1800 als historische Simulation daherkommt, erhebt es ja den Anspruch, die Geschichte abzubilden. Das heißt, gerade die Spieler, die nicht zufällig Geschichte studieren oder nicht Geschichtslehrer sind, die vermuten ja, so war das damals. Und wenn dann so ein entscheidender Faktor, der zum Wohlstand und zur Industrialisierung beigetragen hat, wie die transatlantische Sklaverei und die Sklavenwirtschaft fehlt, dann „lernen“ sie daraus, dass es das nicht gab. Und damit wird im Grunde, diese gesamte Aussage, worauf der Erfolg der europäischen Wirtschaft und Industrialisierung beruht, komplett verzehrt.“

Noch brisanter wird diese Entscheidung zur Aussparung, wenn wir uns die übrigens Features von Anno 1800 ansehen: SpielerInnen dürfen beispielsweise im Rahmen des sogenannten „Arbeitskraft-Systems“ die zu leistende Arbeitszeit der unterschiedlichsten Arbeitskräfte und ihre Gehälter auf Wunsch anpassen — ja, es besteht sogar die Möglichkeit, Arbeitskräfte gezielt über Handelsrouten auf „Produktionsinseln“ zu schiffen, wo sie dann auf Farmen, in Bergwerken oder Raffinerien schuften. Das ist im engsten Sinne zwar noch keine Sklaverei, macht aber eine ethische Argumentation des Entwicklerteams, die laut Riegert vor sensiblen Themen zurückschrecken würden, unglaubwürdig. Blue Byte geht es nicht um die Ethik, Blue Byte geht es um den vorbelasteten Begriff „Sklaverei“ und „Sklavenhandel“ selbst, eine Etikette, die sie Anno 1800 nicht ankleben wollen.

Wenn Dirk Riegert im Interview mit der GameStar sagt, dass Sklaverei ein sensibles Thema sei, dann kann ihm ohne zu zögern Recht gegeben werden. Die systematische Versklavung von Menschen ist ein blutroter Faden, der sich durch die Menschheitsgeschichte zieht und Spuren in wesentlichen Teile unserer Gesellschaft, unserer Wirtschaft und unserer Politik hinterlassen hat. Wenn Dirk Riegert und sein Team von Blue Byte und Ubisoft daraus aber die Konsequenz ziehen, Sklavenhandel in ihrer Spielwelt weitestgehend zu verschweigen, dann ist das kein sorgsamer, ethisch verantwortungsbewusster Umgang — sondern eine verantwortungslose Umdeutung der Geschichte, die Kritik verdient.

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Dom Schott hat Archäologie studiert und schreibt heute als freier Journalist besonders gerne über spannende Online-Communities, Netzkultur und seine zwei Kater.

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